Dienstag, 18. Juli 2017
Ein europäisches Zuchthaus?
Reicht es, weiter Reformen in den Arbeitsmarkt- und Sozialordnungen oder den Steuersystemen der europäischen Partner anzumahnen? Kann das europäische Haus ein Zuchthaus sein? Kann europäische
Identität aus den Schritten erwachsen, die das aktuelle Reflexionspapier über die Wirtschafts- und Währungsunion vorsieht?
Wer meint, die neue soziale Frage, die sich immer drängender im Zuge von Globalisierung, Digitalisierung und demografischem Wandel stellt, müsse jede europäische Nation für sich allein
beantworten, der sollte sich konsequenterweise für eine Rückabwicklung Europas auf eine Zollunion aussprechen.
Die soziale Marktwirtschaft ist das Ziel
Denn Binnenmarkt und Euro verlangen nach weit mehr, weil sie sonst zu politischen Sprengsätzen werden. Ja, am Ende geht es um eine Annäherung der Lebensverhältnisse und der Chancen und auch
um den Schutz, den das europäische Gemeinwesen seinen Bürgerinnen und Bürgern bieten können muss. Die Verträge sagen nichts anderes, aber die Werte und die Ziele der Union gelten offenbar nur
in Schönwetterperioden, wenn sie ohne Anstrengung einzuhalten sind und sich gleichsam von selbst verfolgen.
Es geht nicht zuletzt auch um die Einhegung der freien Marktkräfte in der sozialen Marktwirtschaft, wie sie von den westlichen Nationalstaaten in der Nachkriegszeit recht erfolgreich
bewältigt wurde. Nun ist Europa genau hier gefordert, da es einen Markt und eine Währung hat, zu deren Einführung sich alle 27 EU-Staaten bis auf Dänemark verpflichtet haben.
Ein neuer „Ruck“
Das Problem, das Europa mit seinen Eliten hat, ist weniger eines der Distanz zu den einfachen Menschen oder der fehlenden Kommunikation, sondern vielmehr eines der Entscheidungsschwäche und
der Kraft- und Mutlosigkeit.
Dabei sind die Voraussetzungen für beherztes Handeln nun eigentlich da. Die Wirtschaft erholt sich fast überall in Europa, auch in den Krisenstaaten. Frankreich hat ein neues Staatsoberhaupt,
das entschieden mehr Europa will. Dank der Klugheit der Bürgerinnen und Bürger droht aktuell in keinem Mitgliedstaat die unmittelbare Machtübernahme durch antieuropäische Parteien oder
Bewegungen, am wenigsten in Deutschland. Europa ist in eine Phase der Ruhe oder der Beruhigung eingetreten, die aber nicht endlos sein muss.
Durch Deutschland muss nun „ein Ruck“ gehen, möchte man sagen. Es darf ja ruhig den eigenen Vorteil in seinem Handeln suchen. Nur sollte es diesen in der langfristigen Perspektive sehen und
niemals vergessen, dass seine ungefährdete und von anderen nicht als Bedrohung wahrgenommene Existenz von seiner Einbettung in ein Europa abhängt, das dieses Deutschland eben nicht als
Hegemon erlebt.
Dümmliches Gerede vom deutschen Zahlmeister
Entscheidend ist: Das Gerede von Deutschland als Zahlmeister und vom Bezahlen für Andere muss aufhören. Es ist dümmlich und gefährlich, weil es die Friedens- und die Wohlstandsdividende
ausblendet, die stärkere wirtschaftliche und soziale Ausgleichsmechanismen in Europa bewirken werden. Es geht um Investitionen in Europa, im einfachen wie im übertragenen Wortsinn, in seine
Jugend, in seine Modernisierung, in seine Zukunft.
Was Deutschland in Europa investiert, fließt in Form von Sicherheit und Stabilität und, ganz konkret, Aufträgen für seine Wirtschaft wieder an es zurück.
Deutschland wird übrigens nicht dauerhaft oder gar aus eigener Kraft die ökonomische Supermacht Europas sein. Das anzunehmen, wäre töricht. Das heute reform- und investitionsbedürftige
Frankreich hat viele Voraussetzungen, nicht zuletzt kein Deutschland vergleichbares Alterungsproblem, die dafür sprechen, dass es in der wirtschaftlichen Entwicklung schon bald die Nase vorn
haben wird.
Weitsicht und europäische Solidarität
Wäre es nicht weitsichtig, heute für Solidaritätsmechanismen zu sorgen, die Europa politisch und wirtschaftlich stabilisieren und auch uns Deutschen schon morgen oder spätestens übermorgen
zugutekommen können, wenn unsere Sozialsysteme, demografisch bedingt, an ihre Grenzen geraten?
Auch das deutsche Jobwunder wird nicht ewig fortdauern. Hätte es um die Jahrtausendwende eine europäische Fiskalkapazität gegeben, einen europäischen Fonds, der regionale Arbeitsmärkte
entlastet, wäre Deutschland mit seinen damals sechs Millionen Arbeitslosen „Nettoempfänger“ gewesen. Einen solchen Fonds „europäische Arbeitslosenversicherung“ zu nennen, führt jedoch in die
Irre und weckt unnötigen Widerstand gegen eine kluge und dringend gebotene Lösung.
Liefern!
Der von der Europäischen Kommission angestoßene Weißbuchprozess wirft genau diese Fragen auf. Auch die Bürgerdialoge der Europa-Union Deutschland zeigen: Die Regierungen werden nicht so tun
können, als gingen sie diese Fragen nichts an. Sie werden überzeugende Antworten liefern müssen. Und es liegt eindeutig in Deutschlands existentiellem Interesse, dass diese positiv zugunsten
weiterer europäischer Integration ausfallen.
Deshalb sollte niemand in Berlin meinen, die Dinge abwarten und aus sicherer Entfernung beobachten zu können. Natürlich kommt es nicht allein auf Deutschland an. Aber verweigert sich das Land
in der Mitte Europas, kann sich in Europa nicht viel bewegen und noch viel weniger zum Guten wenden. Deutschland muss endlich liefern!
Ein vergiftetes Wort
Die notwendigen Schlussfolgerungen zu ziehen, wird für die in Berlin Verantwortlichen nicht einfach sein. Denn seit vielen Jahren schon wird alles dementiert und in Bausch und Bogen
verworfen, was irgendwie mit dem vergifteten Wort einer „Transferunion“ in Verbindung gebracht werden könnte.
Ohne einen stärkeren europäischen Finanzausgleich, den es ja im Kern über Strukturfonds und andere Instrumente und auch über geldpolitische Mechanismen der Bundesbank zu D-Mark-Zeiten schon
immer gab, wird es nicht gehen.
Mut zu mehr Europa!
Man möchte denjenigen, die das Kanzleramt in Berlin verteidigen oder erobern wollen, zurufen: Habt Mut zu den Entscheidungen, die es für Europa und für Deutschland in Europa braucht.
Die lange Phase der Stabilität, die mit der europäischen Einigung parallel lief und wesentlich auch durch diese bedingt war, ist singulär in der europäischen Geschichte. Sie auch in einer
unübersichtlicher gewordenen Welt fortzusetzen, sollte doch lohnend erscheinen und viele Anstrengungen rechtfertigen.
Eine lohnende Aufgabe
Die europäische Dividende wird so groß sein, dass auch für Deutschland – als Mitglied einer gefestigten Union, eines Tages auch als föderativer Teil eines europäischen Bundesstaates – weitere
Jahrzehnte des Friedens und der Sicherheit in Demokratie und Freiheit bei wirtschaftlicher Prosperität, Chancengleichheit und Solidarität der Starken mit den Schwachen möglich werden.
Man könnte auch sagen, Europa jetzt endlich entscheidend voranzubringen und die Menschen auf diese aufregende Reise mitzunehmen, ist nichts anderes als aufgeklärter Patriotismus und im
Übrigen auch eine Führungsaufgabe, für die ein dickerer Eintrag in die Geschichtsbücher drin ist. Habt Mut zu mehr Europa!
Christian Moos, Generalsekretär der Europa-Union Deutschland